Vielfalt ist ein wichtiger Stichpunkt: Nicht nur Städte und Länder sind religiös vielfältig, auch Religionen selbst weisen eine Vielfalt auf, die Außenstehenden häufig völlig unbekannt ist. Das gilt auch für den Islam: Die Unterscheidung zwischen Sunniten und Schiiten kennen viele nichtislamische Menschen. Sie wird in vielen Medien jedoch häufig leider nur im Kontext von Kriegen und Konflikten diskutiert.
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Die Ahmadiyya hingegen ist vielen Menschen in Deutschland weitgehend unbekannt. Und die wenigen Beiträge, die man zur Ahmadiyya findet, liefern sehr unterschiedliche Darstellungen über das Leben und die religiöse Eigenart der Ahmadis.
Die Ahmadiyya-Gemeinschaft in Leipzig zählt laut eigenen Angaben knapp 100 Mitglieder. In ganz Sachsen sind es rund 400. Weitere Gemeinden und Gebetszentren befinden sich Chemnitz, Dresden und Zwickau. Die Gemeinschaftsräume in allen vier Städten sind unauffällig: Statt in großen Gotteshäusern treffen sich die Mitglieder in angemieteten Wohnungen, was regelmäßig zu Platzproblemen führt. Das soll sich in Leipzig ändern: Im Stadtteil Gohlis soll eine Moschee gebaut werden, mit zwei Hallen für die jeweils männlichen und weiblichen Mitglieder, einer Bibliothek, einem Veranstaltungsraum und einer Wohnung für den Imam. Es soll auch ein Minarett geben, aber ohne Muezzin-Ruf.
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Bau einer Moschee in Leipzig
Über den geplanten Bau der Moschee sowie über Gegenwind für das Vorhaben berichteten mehrere Medien, u.a. die Zeitung "Die Welt".
Die Idee zum Moscheebau besteht bereits seit 2013. Der Bau soll im Jahr 2024 beginnen. Dazwischen liegen elf Jahre, die für die Gemeinde nicht nur von behördlichen Herausforderungen, sondern auch von Ablehnung seitens einiger anderer Bürger Leipzigs geprägt waren. Proteste wurden auch von der Bürgerinitiative Gohlis sagt nein!, von LEGIDA oder der NPD organisiert.
Auf der anderen Seite gab sich jedoch auch Demonstrationen, die sich gegen Ressentiments und für das Recht der Ahmadiyya zum Bau einer Moschee aussprachen. Mittlerweile ist der Moscheebau genehmigt und der Baubeginn für Mitte 2024 angekündigt.
Während die Gebetszentren und Räume der Gemeinschaft in Sachsen bisher als solche von außen nicht erkennbar sind, legt die Gemeinschaft selbst großen Wert auf Sichtbarkeit in der Gesellschaft. So werden regelmäßige gemeinnützige Aktionen geplant und durchgeführt, zum Beispiel Aufräumarbeiten zu Neujahr, Spendenaktionen für gemeinnützige Zwecke und regelmäßiges Blutspenden. Darüber hinaus werden regelmäßig Flyer verteilt, die die umliegenden Anwohnenden zum Gespräch mit der Gemeinde einladen. Die Aktionen haben mehrere Beweggründe, einer davon ist der Wunsch, der nicht-muslimischen Mehrheitsgesellschaft ein positives Islambild zu vermitteln und Vorurteile gegenüber dem Islam abzubauen.
Bei den Aktionen der Gemeinde gilt der Grundsatz, dem Staat gegenüber loyal zu sein, der einem die freie Religionsausübung gewährt. Islamkritiker hingegen interpretieren die Aktionen der Ahmadiyya anders: Sie sehen diese Aktionen als Teil der Missionierung und damit des Versuchs, Europa zu "islamisieren".
Grundsätzlich kennt der Islam – genauso wie das Christentum – und auch die Ahmadiyya das Konzept der Missionierung. Mirza Ghulam Ahmad habe prophezeit, dass die gesamte Menschheit innerhalb von 300 Jahren seine Lehren angenommen haben werde. Der vierte Kalif Mirza Tahir Ahmad hat 1989 dazu aufgerufen, 100 Moscheen innerhalb von zehn Jahren in Deutschland zu bauen.
Der Islamwissenschaftler Tom Bioly hält den Vorwurf der schleichenden Islamisierung dennoch für falsch: Die Missionierung solle friedlich, ohne Zwang und auf rein intellektueller Ebene erfolgen, indem die Ahmadis die Lehren Ahmads verbreiten. Den zwangfreien Charakter betonen die Ahmadis auch selbst immer wieder in ihren Slogans "Liebe für alle, Hass für keinen" und "Es soll keinen Zwang im Glauben geben". Die Außenstehenden sollen also die Lehren der Ahmadiyya annehmen können, nicht müssen.
Einheimische Soldaten, die Sepoys genannt wurden, als Mitglieder der sogenannten Madras-Armee (1800). Die britischen Kolonialisten beherrschten den Subkontinent mit Truppen zu denen auch viele Soldaten Indiens gehörten.
Die Anfänge der Ahmadiyya gehen auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts in Britisch-Indien zurück. Diese Zeit stellte die Hochphase des Kolonialismus dar, in der die militärische Übermacht Europas in den kolonialisierten Gebieten allgegenwärtig war. In dieser Zeit gab es zahlreiche und vielfältige Modernisierungsbestrebungen, bei denen die Frage nach der Rolle des Islam zentral war. Viele islamische Intellektuelle überlegten und debattierten darüber, ob und wie der Islam und die Moderne miteinander zu vereinbaren seien.
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Britische Kolonie Indien
Der britische Kolonialismus in Indien, der offiziell von 1858 bis 1947 dauerte, hatte weitreichende Auswirkungen auf die politische, wirtschaftliche und soziale Struktur des Landes. Auch für die Entstehung der Ahmadiyya-Gemeinschaft spielte der Kolonialkontext eine bedeutende Rolle:
Zum einen bot die britische Herrschaft relative Religionsfreiheit, was es neuen religiösen Bewegungen erleichterte, zu entstehen und sich zu organisieren. Die Ahmadiyya nutzten diese Freiheit, um ihre Botschaft zu verbreiten und Anhänger zu gewinnen.
Zum anderen ermöglichte das britische Kommunikations- und Transportnetzwerk eine schnelle und weite Verbreitung der Lehren Ahmads, sowohl innerhalb Indiens als auch weltweit.
Die Ahmadiyya-Gemeinschaft nutzte auch die westlichen Bildungseinrichtungen und Druckereien, um ihre Schriften zu veröffentlichen und ihre Mission zu fördern. Die Zusammenarbeit mit den Briten führte dazu, dass die Ahmadiyya oft als loyal gegenüber der Kolonialregierung angesehen wurden, was zu Spannungen mit anderen muslimischen Gruppen führte.
In diesem Kontext war auch der Begründer der Ahmadiyya Mirza Ghulam Ahmad (1835-1908) aktiv und verfasste zahlreiche Schriften, in denen er den Islam als mit der modernen Zeit vereinbar verteidigte, darunter Barahin-i-Ahmadiyya (Beweise des Islam) von 1880. Später bezeichnete er sich außerdem unter anderem als Überbringer von Gottes Nachrichten und als Erneuerer des Islam, und je nach Lesart seiner Schriften hat er sich auch als Messias und Mahdi (Messias bezeichnet für Juden, Christen und Muslime einen Erlöser, Mahdi für Muslime eine Person, die die Muslime wieder auf den rechten Weg des Islams weisen wird) bezeichnet.
Mirza Ghulam Ahmad (Mitte) und seine ersten Anhänger. Rechts neben ihm ist sein späterer Nachfolger Nuur ud-Din zu sehen im Jahr 1899
Durch sein religiöses Wissen und sein charismatisches Auftreten fand Ahmad schnell Anklang in seinem Umkreis, und 1889 führten seine Anhänger und er die sogenannte bay’at-Zeremonie in Ludhiana (heutiges Indien) durch. In dieser Zeremonie haben die Anhänger Ahmad als Oberhaupt feierlich anerkannt und sich ihm zur Loyalität verpflichtet, was den heutigen Gläubigen als Gründungsstein der Ahmadiyya gilt.
1901 ließ Mirza Ghulam Ahmad die Ahmadiyya als eigenständige Gemeinschaft registrieren. 1908 starb Mirza Ghulam Ahmad, und allmählich begannen Streitigkeiten unter seinen Anhängern, wobei die theologische Rolle des Gründers und damit einhergehend die Frage nach der Organisation der Gruppe im Mittelpunkt standen.
Ein Portrait von Mirza Ghulam Ahmad im Gebetsraum der Ahmadis
Prophet oder Messias?
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Mirza Ghulam Ahmads Charisma war jedoch auch Ausgangspunkt für eine Debatte innerhalb der Ahmadiyya-Gemeinschaft: War Mirza Ghulam Ahmad ein Messias und Mahdi mit prophetischem Anspruch oder nicht?
Da die Schriften und Aussagen von Ahmad mehrere Lesarten zuließen, bildeten sich bald zwei Lager, die sich 1914 endgültig voneinander abgrenzten, die Ahmadiyya Andschuman-i Ischaʿat-i Islam Lahaur (AAIIL) und die Ahmadiyya Muslim Jamaat (AMJ).
Ahmadiyya Andschuman-i Ischaʿat-i Islam Lahaur (AAIIL)
Die AAIIL spricht Mirza Ghulam Ahmad ebenfalls eine herausragende Rolle als islamischen Philosophen und Gelehrten zu, betont allerdings, dass er selbst nie von sich behauptet habe, einen prophetischen Anspruch zu besitzen.
Die AAIIL hat einen gewählten Präsidenten mit einer repräsentativen Funktion, aber ohne eine religiöse Legitimierung an ihrer Spitze.
Nach der Trennung beider Gruppen war es die AAIIL, die als erste nach Deutschland kam. Im Jahr 1923 kamen die ersten Mitglieder der AAIIL nach Berlin und bauten von 1924 bis 1928 ihre erste Moschee, die Wilmersdorfer Moschee. Nach dem "Halbmondlager Wünsdorf"von 1915 war sie die zweite Moschee überhaupt, die auf deutschem Gebiet gebaut wurde und bis heute in Nutzung ist. Zeitgleich versuchte auch die AMJ in Berlin ansässig zu werden, zog sich aber mangels Erfolg wieder zurück und kehrte erst nach Ende des zweiten Weltkrieges wieder.
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Die Ahmadis in Sachsen gehören zur AMJ. Sie glauben, dass Ahmad der Messias und Mahdi mit prophetischem Anspruch ist, allerdings mit einem wichtigen Unterschied zum Propheten Muhammad: Während Muhammad mit dem Koran neue Lehren und Gesetze gebracht habe, habe Mirza Ghulam Ahmad mit seinen Aussagen und Schriften Muhammads vorhandene Gesetze lediglich bestärkt.
Die AMJ hat einen Kalifen - derzeit der fünfte Kalif Mirza Masroor Ahmad - als religiöses Oberhaupt. Er wurde auf Lebzeit gewählt und gilt als Nachfolger von Mirza Ghulam Ahmad.
Generell ist die AMJ strikter und hierarchischer organisiert als die AAIIL: Sie ist in nationale, regionale und lokale Gemeinden unterteilt, mit jeweils einem Präsidenten als Hauptverantwortlichen. Außerdem ist die AMJ geschlechter- und altersspezifisch in weitere Gruppen aufgeteilt, nämlich in Frauen, Männer- und Jungmännergruppen (Männer bis ca. 40). Sowohl die Frauen- als auch Männergruppen kümmern sich gemeinsam um anfallende Aufgaben wie beispielsweise Spendenmanagement und Öffentlichkeitsarbeit. Außerdem kümmern sich sowohl die Männer- als auch die Frauengruppen um die Kinderbetreuung, wobei die Frauen die Mädchen, und die Männer die Jungs betreuen.
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Die Ahmadiyya in der Islamischen Welt
Ein lebender Messias - das ist religiös wie politisch höchst brisant. In islamisch geprägten Ländern ist und bleibt die politische Lage für die Ahmadiyya deshalb angespannt: Zahlreiche Regierungen schlossen sie aus der islamischen Gemeinschaft (umma) aus. In Pakistan – bis 1974 der Hauptsitz der AMJ - wurde den Ahmadis sogar offiziell verboten, sich als Muslime zu bezeichnen.
Daraufhin haben viele von ihnen Pakistan verlassen und Zuflucht in europäischen Ländern wie der Bundesrepublik Deutschland gesucht. Viele von ihnen fanden Heimat in den bestehenden Gemeinden, und bis heute bilden die damals geflüchteten Pakistanis und deren Nachfahren den Großteil der Gemeindemitglieder ab.
Nach dem Zweiten Weltkrieg entsandte die AMJ Missionare nach West-Deutschland (vorwiegend in die britische Besatzungszone). Schnell wuchs die Gemeinschaft und konnte in Hamburg eine erste Gemeinde gründen. Dort errichtete sie im Jahr 1957 ihre erste Moschee. Im Osten Deutschlands ist die Etablierung der Ahmadiyya-Gemeinden weniger erforscht worden. Die Anfänge der Ahmadiyya in Sachsen sind daher nur lückenhaft aufgezeichnet.
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Über die Anfänge der Ahmadiyya im Osten Deutschlands
Interview mit Imam Laeeq Ahmad Munir
Um die Anfänge der Ahmadiyya besser nachvollziehen zu können, hat sich der derzeitige Hamburger Imam Laeeq Ahmad Munir zu einem Interview bereit erklärt. Laeeq Ahmad Munir ist 1978 aus Pakistan nach Deutschland gekommen. In seiner gesamten Zeit in Deutschland war er in mehreren Städten als Imam tätig, darunter Köln, München und von 1991-1993 in Leipzig. Imam Laeeq Ahmad Munir schildert seine Eindrücke wie folgt:
"Ich war damals in Köln als Imam tätig, als Deutschland 1989 wiedervereinigt wurde. Damals gab es wenige Imame in der Ahmadiyya-Gemeinde, so sechs, sieben oder acht. [...] Damals hatte man für Ostdeutschland [...] keine Imame, nur Basit Tariq für Berlin. [...] Und unser Vorsitzender hat zu mir gesagt: ‚Du sollst nach Leipzig gehen. Wir müssen versuchen, auch dort unsere Gemeinde vorzustellen.’ Das war eine ganz neue Sache für mich, an einem Ort, an dem noch niemand als [Ahmadi-]Imam tätig war."
Mit der neuen Situation waren für Munir einige Anstrengungen verbunden, darunter auch die Suche nach einer Wohnung: In Leipzig angekommen, lebte er zuerst außerhalb von Leipzig für zwei Monate in einer Pension. Von dort aus suchte er weiter nach Wohnungen, bis er schließlich in Leipzig-Stötteritz fündig wurde: In der Papiermühlstraße 12 gab es eine freie, sanierungsbedürftige Wohnung, ohne Dusche und Toilette. Ein befreundeter Handwerker aus seiner Kölner Gemeinde kam zu ihm nach Leipzig und half ihm bei der Sanierung. Diese Wohnung diente dann später auch als Treffpunkt für die Gemeinde.
Auch die Gemeindebildung und Gewinnung von Mitgliedern verlief langsam und mühselig: Laut Munir gab es offiziell keine Ahmadis in Ostdeutschland, nur in Westdeutschland, und viele der Pakistanis, die vor der Wende in der DDR gelebt haben, haben nach der Wende die DDR verlassen. Um dennoch Mitglieder zu gewinnen, hat Munir auf Sichtbarkeit und das Schneeballprinzip gesetzt: Einige Geschäftsmänner aus der Kölner Ahmadiyya-Gemeinde waren zum selben Zeitpunkt ebenfalls in den neuen Bundesländern anwesend, um in Städten wie Leipzig und Erfurt ihre Geschäfte weiter auszubauen. Diese haben einige Ahmadis kennengelernt und an Munir weitergeleitet. Zusammen mit den Geschäftsleuten aus West- und den neuen Kontakten aus Ostdeutschland hat Munir in der Öffentlichkeit auf die Ahmadiyya aufmerksam gemacht. Die Leipziger Buchmesse war dabei von erhöhter Bedeutung mit eigenen Stand und den Schriften von Mirza Ghulam Ahmad und des vierten Kalifen, Hadhrat Mirza Tahir Ahmadra. Laut Munir unterlag die Anzahl an Interessierten und Mitgliedern innerhalb seiner zwei Jahre einer starken Fluktuation: Leute, die bereits Mitglieder oder interessiert waren, sind teilweise weggezogen oder haben sich von der Ahmadiyya wieder abgewandt. Imam Laeeq Ahmad Munir konnte 1993 etwa 40-45 Mitglieder in Leipzig und Umgebung verzeichnen.
„Vorzeigemuslime“ oder „Konservative“ – „Reform-Islam“ oder „Splittergruppe“?
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All diese Eigenschaften werden den Ahmadis zugeschrieben. Welche treffen denn nun zu?
Der Bundesvorsitzende Abdullah Uwe Wagishauser selbst bezeichnet die Ahmadiyya als „liberal und offen, aber wertkonservativ“, und bringt damit alle Attribute zusammen.
Was widersprüchlich klingt, bringt das Auftreten der Ahmadiyya gut auf den Punkt, denn die Ahmadiyya vertritt je nach Thema sowohl konservative als auch liberale Ansichten. Das wird bereits bei der Geschlechterfrage deutlich.
Außerdem befürworten Ahmadis säkulare Staaten wie Deutschland, da sie dort – anders als in den islamisch geprägten Staaten – ihre Religionsfreiheit ausleben können.